Martina Clavadetscher, Gewinnerin des Schweizer Buchpreises 2021. Bild © Janine Schranz
Martina Clavadetscher, Gewinnerin des Schweizer Buchpreises 2021. Bild © Janine Schranz

Literatur

Brunnerin gewinnt Schweizer Buchpreis 2021

Trotz Krach im Vorfeld und schlechter Presse war der Buchpreis gestern ein Fest. Martina Clavadetscher holt sich verdient den Hauptpreis.

Was unterscheidet Solothurn von Basel? Die Kleinstadt an der Aare feiert sich jeweils im Mai mit einem Fahnenmeer als Hauptstadt der Schweizer Literatur. Basel, die Kulturmetropole am Rheinknie, feiert mit fahnengeschmückter Brücke die Herbstmesse. Das gleichzeitig im November stattfindende Literaturfestival hingegen versteckt sich im Innenhof des Volkshauses. Kein Plakat, keine Fahne macht darauf aufmerksam. Ist das symptomatisch für die Unsichtbarkeit der Schweizer Literatur? Der Schweizer Buchpreis will gerade dies verändern – seit 14 Jahren gelingt das mal mehr, mal weniger. Dieses Jahr eher weniger. Martina Clavadetscher, die diesjährige Gewinnerin des Buchpreises, wäre ein sympathisches Aushängeschild der Schweizer Literatur: coole Ausstrahlung, bodenständig, witzig und wortgewandt – und in ihren Büchern eine mutige, avantgardistische Autorin. Wenn nur die Hälfte der Gäste an der gestrigen Verleihung des Buchpreises im mit gegen 40 Personen fast voll besetzten Foyer im Theater Basel auch an ihrer Lesung vom Vortag teilgenommen hätten, wäre der Volkshaussaal nicht halb leer gewesen. Bei den anderen drei Nominierten, bei Thomas Duarte, Michael Hugentobler und Veronika Sutter, war der Saal noch etwas leerer. Deutlich mehr Leute wollten etwa Sayda Kurt hören, die aus ihrem Sachbuch-Bestseller «Radikale Zärtlichkeit. Warum Liebe politisch ist» las, oder dann vor allem am Samstagabend Lara Stoll, die mit ihrem ersten Buch eine fulminante Show mit Gesang, Grimassen, Tempo und schwarzem Humor ablieferte – ein grosses Vergnügen.

Fehlten auf der Shortlist Publikumslieblinge?


Vielleicht lag das verhaltene Interesse an den Lesungen der Nominierten daran, dass einige Medien diese zuvor schlechtgeredet hatten. Vielleicht lag es auch daran, dass man sich alle diese Bücher erarbeiten muss und sie als sperrig gelten. Die Auswahl liess die Kritikerin des «Tages-Anzeigers» «ratlos » zurück, der SRF-Kritiker bezeichnete die Shortlist als «akademisch». Einwände, die man dann gelten lassen kann, wenn man auf der Shortlist Simone Meier, Arno Camenisch oder Benedict Wells vermisste – allesamt Literaturstars mit grosser Fangemeinde, die dieses Jahr breit und lobend besprochene Bücher herausbrachten. Nominiert also die Buchpreis-Jury am Lesepublikum vorbei? Jurypräsident Daniel Graf, selbst Literaturkritiker, hielt dem entgegen: Ihn verwundere dieser Einwand, schliesslich seien Martina Clavadetscher und Michael Hugentobler etablierte Autoren, Martina Clavadetscher sogar zum zweiten Mal nominiert. Und dass zwei Debüts auf der Shortlist stehen, sei doch eine Einladung, Entdeckungen zu machen. Um noch einen Einwand vorzubringen: Wasserglaslesungen seien doch öde! Das ist zumindest für die Lesungen an der Buch Basel ein komplett falsches Vorurteil. Wer etwa die Gespräche mit Moderatorin Esther Schneider erlebt hat, die bis Ende August diesen Jahres die Literaturredaktion von SRF leitete, hat mehrere so erhellende wie vergnügliche Stunden mit Literatur verbracht.

«Frankenstein» ist ihr Lieblingsbuch


Dass Martina Clavadetscher als Siegerin aus Basel abreiste, war absehbar: Unter anderem sah auch die SRF-Online-Abstimmung sie als Favoritin. «Die Erfindung des Ungehorsams» ist nicht nur über weibliche Sexpuppen geschrieben, sondern auch aus deren Sicht, was an sich schon ziemlich sensationell ist. Clavadetscher sagt lachend dazu: «Das Wort Sexpuppe kommt nur im Klappentext vor, im Buch kein einziges Mal.» Denn der Sex habe sie dabei weniger interessiert. Es gibt ihn im Buch fast nicht. Ein wichtigeres Thema sei für sie die Einsamkeit, auf die solche Puppen verweisen: gesellschaftlich bedeutend und literarisch ergiebig. Mary Shelleys «Frankenstein» sei eines ihrer Lieblingsbücher, sagt sie, und ihr neuer Roman sei auch eine Hommage an die Autorin des Horrorklassikers. «Seinen verschachtelten Aufbau habe ich sozusagen von ihm geklaut », sagt sie schmunzelnd. Auch wenn sie mit klarer feministischer Haltung einen beklemmenden Gesellschaftszustand beschreibt, ist ihr Roman «keine Dystopie mit raunender Technologiekritik, sondern ein waghalsiger Text, der den künstlichen Wesen Leben einhaucht», schreibt die Jury zu Recht über den empathischen, nicht anklagenden Roman. Der sachlich-kühle Detailblick in die Puppenfabrik, die sinnlich-opulente Zeichnung der dystopischen Umgebung mit Hitze, Gestank und Überschwemmungen sowie die Verschmelzung von Drama, Erzählung und Lyrik machen den Roman sprachlich zum dichten Kunstwerk.

Fotoserie über Sexpuppen faszinierte die Autorin


Inspiration für ihren Roman sei nicht nur Mary Shelleys «Frankenstein». Dazu gehöre auch die geniale, tragische Mathematikerin Ada Lovelace, zu der Clavadetscher vor zwei Jahren ein erfolgreiches Theaterstück geschrieben hat und die sie in den Roman einbaut. Vor allem aber habe sie eine Fotoserie aus einer chinesischen Fabrik für Sexpuppen fasziniert, «eine verstörende, irritierende serienmässige Schöpfung», die zudem moralische Fragen aufwerfe. Ihr Roman stellt auch die Frage, welche Rechte menschenähnliche Puppen hätten: «Ich würde sie so programmieren, dass sie nur reagieren, wenn man Bitte sagt», meint Clavadetscher. Und: «Man kann den Menschen schon zumuten, etwas höflich zu sein.» Dass wir in naher Zukunft trotz Sprachprogrammen wie Siri mit humanoiden Robotern zusammenleben, wie das bereits in Japan der Fall ist, glaubt sie jedoch nicht. Sie sei jedoch frustriert, dass künstliche Intelligenz nicht für vernünftige Dinge wie die Bekämpfung des Klimawandels oder des Hungers eingesetzt werde.

Bote der Urschweiz / Hansruedi Kugler

Autor

Bote der Urschweiz

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Kategorie

  • Literatur

Publiziert am

08.11.2021

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