Literatur

Der Reiz des Nicht-Erzählten

Judith Keller aus Altendorf ist eine Meisterin der Kurz-Texte. In ihrem neusten, preisgekrönten Buch «Ein Tag für alle» lädt sie dazu ein, eigene Gedanken und Erlebnisse einfliessen zu lassen.

Es ist rund 130 Seiten stark und passt in eine Handtasche oder den  Mantelsack: Das neuste Buch der preisgekrönten Altendörfler Schriftstellerin Judith Keller, das im Herbst erschienen ist. «Ein Tag für alle» vereint 98 Geschichten in sich. Einige sind nur eine Zeile lang, andere füllen mehrere Seiten. Und das Buch lädt einen geradezu ein, es mitzunehmen, darin zu stöbern, laut daraus vorzulesen. Ein Buch für alle und alles, könnte man sagen. Inhaltlich lässt sich Judith Keller in keine Schublade pressen, experimentiert, bleibt im Stil dennoch klar, pragmatisch. Die Geschichten lesen sich leicht – und regen die Fantasie an. Sie laden ein, die geschilderten Situationen und Episoden weiterzudenken, eigene Gedanken und Erlebnisse einfliessen zu lassen, mentale Bilder zu erschaffen. Saatgut für das ganz persönliche Kopfkino sozusagen.

Der Reiz des Kurzen

Mit ihrem neusten Wurf knüpft Judith Keller formal an ihren Erstling «Die Fragwürdigen» an – auch dieser bestach durch kurze und kürzeste Texte. «Diese Form hat sich mir immer schon aufgedrängt», erklärt sie im Gespräch. Obwohl sie mittlerweile gezeigt hat, dass sie mit «Oder?» von 2021 und «Wilde Manöver» von 2023 auch bemerkenswerte Romane hervorbringen kann. In ihren Kurztexten hat sie Sprache selbst ihren durchaus amüsanten Auftritt. «Wie wenn man im Tram sitzt, draussen äussert jemand einen Satz, die Tür geht zu – es bleibt bei diesem einen Satz, herausgerissen aus dem Kontext», erläutert sie anhand eines Beispiels. «Mich inspiriert, was dabei mitschwingt», führt sie aus und fügt an, «was nicht gehört, nicht ausgesprochen wurde, was in der Schwebe bleibt.» Es gehe um das Potenzial einer Geschichte, weniger um die Geschichte selbst. Und um das Geheimnisvolle der Sprache, das kurz aufblitzt. Wie ein flüchtiger Schatten im Kino. «Was soll das heissen: ‹Odile fällt in ein tiefes Schaf›», zitiert sie aus ihrem Buch. Sie ist überzeugt, dass dieses Bruchstückhafte eher an unsere Art und Weise herankommt, wie wir die Dinge wahrnehmen. Denn in der Realität gibt es in der Regel keinen Erzähler, der die Welt, das Erlebte für uns einordnet und erklärt. Etwas bleibt immer offen, geht nicht auf. «Man muss mit dem umgehen, was nicht aufgeht», ist sie überzeugt. Wie im Beispiel aus ihrem Buch unter dem Kapitel «Tamara»: «Fast hätte sie gehupt.»

Ein vielschichtiger Prozess

Doch wie entsteht ein solches Buch? Die einzelnen Texte sind laut Judith Keller im Laufe der vergangenen rund sieben Jahre entstanden. Was darauf folgte, war ein vielschichtiger Prozess. Am Anfang stand also eine lose Sammlung – es gab keinen eigentlichen roten Faden. «Ich wusste lange Zeit nicht, wie das Buch heissen soll», räumt sie ein. Mit Hilfe ihrer Lektorin hat sie sich daran gemacht, die einzelnen Texte auszuwählen. «Wir haben sie auf dem Boden ausgelegt, einige davon ausgeschnitten, Kapitel überlegt und viele Ideen wieder verworfen», erzählt sie und lacht. Die Schwierigkeit dabei: Jeder der kurzen Texte muss für sich selbst stehen können – und dennoch in ein Gesamtkonzept passen. Es soll ja keine beliebige Sammlung sein – nicht einfach Kraut und Rüben. «Irgendwann haben wir uns für die Form eines Tagesablaufs entschieden», erklärt Keller. Einige Texte hätten darum nicht mehr reingepasst. Andere seien erst im letzten Moment entstanden. «Ich habe sie der Lektorin per Whatsapp gesendet », erinnert sie sich. «Sie war zu der Zeit gerade in Mexiko.» Erste Resonanz hat Judith Keller für «Ein Tag für alle» bereits gefunden. Sie wurde dafür vergangenes Jahr mit dem Literatur-Förderpreis der Zentralschweizer Kantone bedacht.


Mehrfach ausgezeichnete Autorin

Judith Keller (* 1985) wuchs in Altendorf auf und lebt derzeit in Zürich. Sie hat Literarisches Schreiben in Leipzig und Biel sowie Deutsch als Fremdsprache in Berlin und Bogotá studiert. Sie wurde bereits mehrfach für ihr literarisches Schaffen ausgezeichnet. Hier eine Auswahl: Vergangenes Jahr wurde sie für ihren Roman «Wilde Manöver» mit einem Schweizer Literaturpreis bedacht. Für «Ein Tag für alle» erhielt sie zudem den Literatur-Förderpreis der Zentralschweizer Kantone. 2023 verlieh ihr der Kanton Schwyz den Kultur-Förderpreis. Ihr Erstlingswerk «Die Fragwürdigen» wurde 2017 mit Anerkennungspreisen von Stadt und Kanton Zürich ausgezeichnet. Zudem wurde es unter dem Titel «The Questionable Ones»(Seagull Books, London 2023) ins Englische übersetzt. Auch eine Übersetzung für «Wilde Manöver» ist in Arbeit.


Buchinfo

Judith Keller: «Ein Tag für alle» (edition spoken script 51).
Verlag: Der gesunde Menschenversand, Luzern 2024.
Klappenbroschur, 136 Seiten / 978-3-03853-204-0

Höfner Volksblatt und March-Anzeiger / Franziska Kohler

Autor

Höfner Volksblatt & March Anzeiger

Kontakt

Kategorie

  • Literatur

Publiziert am

04.02.2025

Webcode

www.schwyzkultur.ch/wnkqBb