Literatur
mmm: 04 – Blog Martina Mächler
Ich war mir sicher, dass ich den Gedanken gefunden hätte, wäre ich im Raum umhergeirrt.
Gestern liess ich mich testen und wartete auf den verschiedenen gleichaussehenden Stühlen darauf, dass der wiederkehrende schrille Ton erklingt und dass die Nummer auf dem Zettel in meiner Hand mit jener auf dem Bildschirm korrespondiert. 109.
109 liess mich wissen, wann ich im jeweils nächsten Raum Platz nehmen durfte. Für die Übergänge hatte ich ein Buch dabei. Daraus las ich zeitlich zerstückelt über das Mittragen von Gefühlen und über den Moment vom «Apfels sehen» zum «Apfel essen wollen» zum «Greifen des Apfels» und dem effektiven «Essen des Apfels» und die Reflektion darüber welche Momente und Bewegungen davon bewusst und gewillt erfolgen. Und ich las, was ich schon ahnte. Es ist gar nicht unüblich, dass man manchmal an Stelle des Apfels eine Pflanze in den Händen hält, obwohl man vielleicht sogar hungrig wäre, und Lust auf den Apfel hätte, aber das Licht, welches durch das kleine Küchenfester drängt, so sehr auf die poröse Oberfläche des Blumentopfs oder die Wassertropfen auf den Blattspitzen lenkt.
Der mich befragende Arzt meinte, das wäre jetzt das letzte Mal, «oder?». Woraufhin ich ihn irritiert anblickte und mich fragte, warum er zu diesem Gedankenschluss kommen konnte. Wir standen lachend auf, hatten wahrscheinlich beide andere Gründe dafür und womöglich das geteilte Bedürfnis nach Brücken und einer Verbindung, welche so etwas wackelig im Raum stand, während ich mich wieder setzte.
Gewisse Textstellen hatte ich bestimmt schon fünf Mal gelesen, einige davon hatten mich tief berührt und andere konnte ich nicht aufnehmen und wollte sie deswegen laut lesen, damit ich die Worte besser fühlen konnte. Aber das machte ich nicht und lief zum nächsten Stuhl und schlug die Beine übereinander und das Buch wieder auf und versuchte den Gedanken zu finden, welcher von einer gewissen Stelle zwischen den Buchstaben losschweifte und nun verflogen schien. Ich war mir sicher, dass ich den Gedanken gefunden hätte, wäre ich im Raum umhergeirrt. Rasch vergewisserte ich mich mit einem hektischen Blick auf den Zettel, der zwischen meinem Oberschenkel und dem schwarzen Stuhlposter fixiert war, ob ich noch die richtige Zahl im Fokus hatte – und liess den Gedanken gehen.
Später im Atelier öffnete ich das Buch wieder und der Zettel mit der Zahl war leider kein Buchzeichen mehr. Ich begann mich abermals zu orientieren und landete nach einer Weile wieder beim Apfel und merkte es erst, als ich in die frische Nektarine biss, die auf meinem Arbeitstisch stand.
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SchwyzKulturPlus
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