«Der Film soll nicht anprangern, sondern die Geschichte von fünf ehemaligen Heimkindern erzählen und so eine persönliche Aufarbeitung ermöglichen.» Edwin Beeler, Filmemacher. Bild Wolfgang Holz
«Der Film soll nicht anprangern, sondern die Geschichte von fünf ehemaligen Heimkindern erzählen und so eine persönliche Aufarbeitung ermöglichen.» Edwin Beeler, Filmemacher. Bild Wolfgang Holz

Film

«Hexenkinder» – auch aus Einsiedeln

Der gebürtige Rothenthurmer Edwin Beeler hat wieder einen berührenden Kinodokumentarfilm gedreht. Es ist sein siebter. Er widmet sich einem sehr bewegenden Thema: dem weggesperrter Heimkinder. Drei ehemalige Einsiedler Waisenhauskinder kommen dabei auch zu Wort.

Wer das erste Mal Edwin Beeler begegnet, den überrascht dessen Ruhe. Ja, dessen Insichruhen und sanfte Diktion. Ein Eindruck, der einen umso mehr überrascht, weil der 61-Jährige Filmemacher, der aus Rothenthurm stammt und heute in Emmen bei Luzern lebt, in seine Werken zumeist Geschichten über Dinge erzählt, die einen zutiefst beunruhigen. In seinem Film «Arme Seelen» von 2011 sind dies Menschen, die Kontakt zu den Geistern von Verstorbenen pflegen – in seinem neuen Streifen die teils furchtbaren Schicksale von Heimkindern. Von «Hexenkindern». Sprich: Von benachteiligten Kindern, die von ihren ledigen Müttern geboren, von ihren Vätern verstossen und schliesslich in Heimen fremdplatziert wurden. Und dabei auch noch im Namen der Religion gequält, ja teilweise regelrecht gefoltert worden sind – teilweise wie zu den Zeiten mittelalterlichen Hexenwahns, als man vom Teufel besessen Geglaubten den Dämon durch Züchtigungen auszutreiben versuchte. «Denn es gibt ihn heute noch, den religiösen Wahn, mit all seinen Erscheinungsformen wie repressiver Erziehung zum angeblichen Seelenheil, mit der Anwendung von Körperund psychischen Strafen», erklärt Beeler. Wobei sein neuer Film «Hexenkinder» aber kein Werk ist, das die religiösen Institutionen verurteilen will. Er ist vielmehr als «anwaltschaftlicher» Film konzipiert. «Der Film soll nicht anprangern, sondern die Geschichte von fünf ehemaligen Heimkindern erzählen und so eine persönliche Aufarbeitung ermöglichen», stellt Beeler klar – der 2017 ja den Innerschweizer Kulturpreis verliehen bekam.

Ingenbohler Klosterfrauen lehnten ab


In seinem Film kommen, trotz Anfrage und trotz Anregung eines Betroffenen, keine Vertreter jener religiös geführten Institution zu Wort, die damals für die Betreuung der Einsiedler Waisenhauskinder verantwortlich war. «Die Provinzleitung der Ingenbohler Klosterfrauen lehnte eine Mitwirkung im Film ab – auch mit dem Argument, man habe bereits im Rahmen des eigenen Aufarbeitungsprozesses vor laufenden Kameras um Verzeihung gebeten und versucht, ein Zeichen der Versöhnung zu setzen», so der Zentralschweizer Filmemacher.

Abt Holzherr und seine Versöhnungsgeste


Ausserdem seien betroffene Klosterfrauen aus jener Zeit längst verstorben oder pflegebedürftig – sodass man sie nicht mehr befragen könne. Wobe iBeeler Klosterfrauen auch einen gewissen Opferstatus zuspricht – weil ein patriarchalisches Kirchensystem sie damals auch ausgenutzt hätte. «Ein Betroffener erzählt aber im Film, wie der frühere Abt Holzherr von Einsiedeln sich im Namen seiner Kirche für das Geschehene bei ihm entschuldigte, indem er sich vor ihm auf den Boden legte», so Beeler. Eine Geste der Entschuldigung, auf die viele andere Heimkinder auch hofften – ihnen aber nicht zuteil wurde.

Drei Einsiedler erzählen


Beelers Film erzählt aus der Perspektive der damaligen Kinder. Und was sie erlebt haben, darf seiner Meinung nach auf keinen Fall relativiert werden. Der eigentliche Kern des Films sind, wie gesagt, die fünf berührenden Geschichten von ehemaligen Heimkindern. Darunter finden sich drei Einsiedler Personen: MarieLies Birchler, Annemarie Iten-Kälin und Pedro Raas. Alle drei waren Heimkinder im früheren Waisenhaus. Annemarie Iten-Kälin ist vielen Einsiedlern ein Begriff als Sprecherin früherer Waisenhauskinder – vor allem in der SRF-Fensehdokumentation, die im vergangenen Frühjahr Missbrauchsvorwürfe an die Adresse des früheren Heimleiters aufzuarbeiten versuchte. «Diese Zeit wird im Film aber nur am Rande erwähnt», sagt der gebürtige Rothenthurmer. Annemarie Iten-Kälin erzählt etwa von ihrem Erlebnis, als sie einer Nonne vom tragischen Suizid ihres Vaters berichtete, nachdem sie deswegen von anderen Heimkindern ausgelacht worden sei. «Muesch gar nid brüele», habe die Nonne ihr lediglich entgegnet. Selbstmord galt eben als Todsünde.

«Water-Boarding»-Torturen


Die heute 70-jährige MarieLies Birchler erinnert sich nicht nur an solche demütigenden Erlebnisse wie an jenes, als sie als kleines Mädchen von der Schwester Oberin jeden Abend Weihwasser aus Lourdes über ihr Bett gespritzt bekommen habe. «Weil man mir sagte, ich sei vom Teufel besessen.» Grausam, ja geradezu wie die sadistische Folter-Methode des «Waterboardings» heutiger Geheimdienste, hört sich ihre Geschichte an, die sie ebenfalls erzählt: «Jeden Abend hat mich Schwester G. in die Badewanne gesteckt und unter das Wasser getunkt, bis ich fast erstickt bin – als Strafe fürs Bettnässen.» Auch Pedro Raas weiss von körperlichen Züchtigungen, wie beispielsweise durch jene Nonnen, die auf ihn mit einem orangen Plastikschlauch einschlagen, weil er Zeuge einer «Exekution» wurde und dabei eine der prügelnden Nonnen von hinten angegriffen hatte. Doch Raas zeigt auch auf, wie Heimkinder ihre hartes Los auf ihre eigene Art verarbeiteten: «Im Pferdestall des Klosters war ein Pferd, das hatte denselben Namen wie ich: Peter. Nach der Schule bin ich zu diesem Pferd und habe ihm erzählt, was mich bedrückt. Dann habe ich es umarmt und seinen Atem gespürt: Ich wusste das Pferd versteht mich.»

Starker Lebenswille der Heimkinder


Gerade mit solchen gefühligen Episoden im 96-minütigen Film, den Beeler mit Landschaftsstimmungen poetisch aufgeladen hat, unterstreicht der einfühlsame Filmemacher, dass es ihm in seinem Kino-Dokumentarwerk nicht nur um das Leid der Hexenkinder geht – «sondern eben auch um die Hoffnungen, die diese Kinder hatten und diese auch auslebten. Will heissen: Dass diese Heimkinder sich nicht unterkriegen liessen. Dass sie einen starken Lebenswillen entwickelten. Und dass sie im Umgang mit der Natur und mit Tieren einen persönlichen Trost für ihr Schicksal fanden», unterstreicht Edwin Beeler. Just diese Form unmenschlicher Menschlichkeit im Film von Edwin Beeler würdigt die Schweizer Kino-Legende und der Filmemacher Fredi Murer. «Seine hochsympathischen Hauptdarsteller, zwei Damen und drei Herren in ihrem besten Alter, müssten heute eigentlich um die 350 Jahre alt sein – denn sie alle verbrachten ihre Kindheit im tiefsten Mittelalter. In christlich geführten Kinderheimen. Hier in unserer heilen Schweiz.»

«Hexenkinder» wird am 12. März in der Cineboxx in Einsiedeln uraufgeführt. Am 17. September (statt 2. April) ist dann der allgemeine Kinostart (verschoben wegen Corona-Virus).

Einsiedler Anzeiger / Wolfgang Holz

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Einsiedler Anzeiger

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  • Film

Publiziert am

28.02.2020

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