Literatur
«In dieser Luft fühle ich mich wohl»
Interview mit Schriftsteller Thomas Hürlimann über Einsiedeln, seine Erinnerungen – und die Schwarze Madonna Schriftsteller Thomas Hürlimann hat lange Jahre in Einsiedeln gelebt. Die Gegend ist ein Stück Heimat für ihn, wie er im Interview nach seinem Auftritt im Fram-Club bekennt.
Mit Thomas Hürlimann sprach Wolfgang Holz
Wolfgang Holz: Herr Hürlimann, die wichtigste Frage vorweg: Wie gehts Ihnen gesundheitlich?
Gut, gut, gut. Ich muss mich jedes Vierteljahr einer Prüfung unterziehen. Und diese steht jetzt wieder an. Da bin ich vorher lieber immer ein bisschen pessimistisch, um dann positiv überrascht zu werden.
Sie wirken heute Abend so aufgedreht. Liegt das an Einsiedeln?
Nein, ich glaube, das liegt ein bisschen daran, dass ich jetzt längere Zeit solche Auftritte nicht mehr hatte. Vielleicht gehe ich dann mit etwas zu viel Schwung rein (lacht).
Was bedeutet es für Sie, nach Einsiedeln zurückzukehren, wo Sie einige Jahre Ihres Lebens verbracht haben. Kann man von einer Heimkehr sprechen?
Ja, durchaus. Das fängt mit der Abendtemperatur an. Oder mit der Luft. Wenn ich vom Unterland an einem heissen Tag wie heute hier hochkomme, dann ist das tatsächlich so, dass ich mich in dieser Luft sofort wohlfühle – die ich hier zehn Jahr geatmet habe.
Sie leben eigentlich in doppeltem Sinne in Einsiedeln. Kommt doch der Ort in vielen Ihrer Werke auch als fiktionaler Handlungs- und Erinnerungsraum vor. Welches Einsiedeln ist für Sie denn das lebendigste, das eindrücklichste?
Es ist teilweise tatsächlich so, dass man in der Erinnerung fast besser und genauer lebt als in der Realität. Wenn ich mich in der Realität befinde, bin ich ja auch gestört von allen möglichen Dingen.
Wie meine Sie das konkret?
Also, wenn ich jetzt nach Einsiedeln komme, dann frage ich mich zunächst, ob ich hier einen Parkplatz finde oder ob ich noch genügend Benzin im Tank habe, um wieder zurück nach Walchwil fahren zu können. Dieses reale Erleben ist nicht so genau und so plastisch wie die Erinnerung. Und in dieser Beziehung ist Einsiedeln für mich immer noch so sehr lebendig. Aber das betrifft dann das Einsiedeln, das ich erlebt habe, weniger das, welches ich zur Literatur gemacht habe. Über was man schreibt, legt man auch schnell wieder beiseite. Das ist geschrieben, und man vergisst es auch.
Was fasziniert Sie an Einsiedeln am meisten? Das Mysterium?
Pirmin Meier hat ja gesagt, dass Einsiedeln einer der magischen Orte der Schweiz ist. Das geht noch vor die Zeit des Katholizismus zurück, weil es da wahrscheinlich ein Mutterheiligtum gab, und zwar ein heidnisches. Diese Orte sind ja über die ganze Welt verstreut und haben dann eine ganz eigene Geschichte und einen eigenen Raum. Das betrifft ja auch einige Orte am Bodensee. Das ist das eine. Das andere ist vielleicht auch die geografische Lage dieses Einsiedeln, die es ermöglicht, dass es an einem solchen kulturellen Abend wie heute einen vollen Saal gibt.
Das liegt sicher an Ihnen, Herr Hürlimann ...
... das liegt nicht an mir. Hier kann kommen, wer will. In Einsiedeln ist einfach ein Publikum und ein kulturelles Interesse vorhanden. Ich denke da auch an die Bibliothek Oechslin, die ein Sommerseminar veranstaltet. Hier ist etwas los, da gibt es Leute, die diese Tradition aufrechterhalten. Wenn ich teilweise im Kanton Zug bin, vermisse ich so etwas. Diesen Abend hier könnte ich mir so in Zug nicht vorstellen.
Sie haben vorhin in Ihrem Gespräch mit Walter Kälin gesagt, Sie wüssten nicht, ob Sie an Maria glauben, aber Sie würden diese Frau lieben. Welche Beziehung haben Sie zur Schwarzen Madonna?
Sie müssen sich vorstellen, wir waren damals an der Stiftsschule in Einsiedeln rund 800 Leute – alles Männer – und es gab eine Frau. Das war die Maria, die Madonna. Und ich glaube schon, dass die Liebe etwas Transzendentales ist. Man liebt über die Person hinaus, auch die Liebe, wie Platin das gesagt hat. Wir als kleine Sänger im Salve haben damals als Minnesänger diesen Liebesdienst gelernt. Das hat mich dann durch das ganze Leben begleitet – auch wenn das später reale Madonnen waren. Frauen, denen ich während meines Lebens begegnet bin. Die erste, die ich sozusagen angebetet habe, war die Schwarze Madonna.
Was fasziniert Sie, kurz gesagt, nochmals an Gottfried Keller – zu dessen 200. Geburtstag Sie nun ein Lesebuch herausgegeben haben und zu dessen Würdigung Sie heute Abend nach Einsiedeln zu einem Gespräch gekommen sind?
Keller ist ein ganz grossartiger Erzähler. «Romeo und Julia auf dem Dorfe» gehört zu den schönsten Geschichten der Weltliteratur. Er wurde auch der Shakespeare der Novelle genannt.
Aber wirkt so eine Geschichte zwischendurch nicht auch etwas kitschig aus heutiger Sicht?
Nein, «Romeo und Julia» sicher nicht. Es gibt Stellen bei Keller, wo man das sagen könnte. Wenn man Texte aus dem 19. Jahrhundert mit denen von Keller vergleicht, lernt man Keller auch als Realisten kennen, der keineswegs Gefahr läuft, kitschig zu sein. Es ist natürlich sicher so, dass gewisse Umgangsformen damals ganz anders gehandhabt wurden als heute. Insofern sind diese Texte auch der Zeit verhaftet. Als Beobachter von Menschen finde ich ihn aber ganz unerreicht – Schilderungen, die auch noch vor Sigmund Freud gemacht wurden. Da begegnet man einer Psychologie, die man so eigentlich nicht kennt.
Sie werden nächstes Jahr Siebzig. Werden Sie sich wie Gottfried Keller in Ihrem «Dämmerschoppen» auf dem Seelisberg in diesem Hotel mit falschem Namen einchecken?
Ich glaube kaum. Es gibt zwar diese Terrasse noch. Und ich bin auch in dieses Hotel eingestiegen und habe mich vor Ort genau umgesehen, weil man ja wissen will, wie das damals genau war. Die Gästeliste, die im «Dämmerschoppen» auftaucht, hat es übrigens wirklich gegeben. Die habe ich einem alten Gästebuch entnommen. Aber bedauerlicherweise ist das inzwischen kein Grand-Hotel mehr und etwas vom Zerfall angenagt.
Also gibt es bei Ihnen nächstes Jahr eine Geburtstagsparty?
Nein. Ich habe zu einem ganz schlechten Zeitpunkt Geburtstag. Kurz vor Weihnachten. Deswegen habe ich meinen Geburtstag in meinem Leben bis jetzt nur ein einziges Mal gefeiert. Und zwar, als ich dreissig wurde, in einer Kreuzberger Kneipe in Berlin. Das war eine sehr eindrückliche Feier. Ich habe dafür von meinem Urgrossonkel Kaspar, der Schnapsbrenner war, eine ganze Korbflasche Kirsch nach Kreuzberg geschmuggelt. Die haben wir dann getrunken. Das war vielleicht das grösste Besäufnis meines Lebens. Das muss genügen ( lacht). So etwas würde ich am Siebzigsten gar nicht mehr wagen.
Einsiedler Anzeiger / Wolfgang Holz
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Einsiedler Anzeiger
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