Bühne
Countdown für Arbeiter Lenin
Die Bühne 66 spielt «Lenin». An der Oberfläche ein ruhiges und sanftes, in der Tiefe makabres Stück, das dem Sinn des Lebens in der ganzen Tragik nachgeht. Absolut hervorragend ist die Regieleistung mit ihren Einfällen und viel Symbolik.
«Spieled-mer?» Diese zentrale Frage zieht sich durchs ganze Stück. Sie wird zum Anfang ganz harmlos ausgesprochen. Dann begleitet sie unmerklich die gesamte Handlung, weil man nie weiss, wer da wie mit seinem und mit fremdem Leben spielt. Die Frage überhöht sich unerwartet in der Schlussszene, wenn der Pianist, der mit meist melancholischen Melodien in Moll die Szenen begleitet hat, plötzlich alsTod da steht und fragt: «Spieled-mer?» Die Handlung ist angelegt rund um den Arbeiter Lenin, der ein Leben lang gespart und gedarbt hat, um am Schluss in einer feudalen Seniorenresidenz die letzten Tage zu verbringen. Er will sehen, wie es «die da oben haben». Ein brutaler Countdown bis das Geld zur Neige geht. Eine Residenz übrigens, die dem ehemaligen Patron gehört, der Lenin nach seinen dreissig Arbeitsjahren an der Stanzmaschine seinerzeit aus Rationalisierungsgründen entlassen hat. Alles also eine gesellschaftskritische Tragödie mit dem scheiternden Helden Lenin, der gleichzeitig das Scheitern der anderen Protagonisten entlarvt.
Fast zu viel darin verpackt
Das Stück kommt unheimlich, sanft und ruhig daher, hat aber eine gefährliche Doppelbödigkeit, die den Zuschauer hineinzieht. Wenn er es merkt, ist es schon zu spät. Es macht sich Betroffenheit breit, weil rundum im Alltag genau diese Bilder gegenwärtig sind. Das ist gleichzeitig auch die grosse Herausforderung des Stücks: Es ist sehr viel, zu viel, darin verpackt. Die Demenz der Residenzbewohner, die Arroganz der Aristokratie, die Überheblichkeit der Eliten, die Gier der Abzocker werden blossgestellt, ebenso der Neoliberalismus mit seinem Kapitalmarkt, die lächerliche Scheinwelt der Werbespots und die Medizinaltechnologie mit ihrem Versprechen für ewiges Leben. Der echte Lenin hätte viel zu tun! Die Szenen werden immer wieder melancholisch untermalt mit Melodien, auch von Mani Matter («Dene wos guet geit») oder Arthur Beul («Stägeli uuf …»). Autor Markus Köbeli hat also ein sehr dichtes Netz gewirkt, in dem sich das Publikum heillos verfängt. All diese Themen hätten gut für drei Dramen gereicht. Zudem hat Köbeli als Satiriker («Zweierleier», «Total Birgit», Classe politique) natürlich auch Komödiantisches eingefügt. Das hat zwei Wirkungen: Einerseits ragt das Tragische dadurch erst recht heraus, andrerseits wird es erträglich. Bizarr sind Szenen, wenn Schwester Pia stellvertretend für Rigler Spaziergänge machen muss oder ihm, auf dem Spieltisch stehend, eine freizügig- frivole Sicht von unten gewährt.
Brillante Regieleistung
Eine absolut herausragende Leistung liefert die Regie ab.Thomy Truttmann hat viel Symbolik eingebaut: flackernde Kerzen, die ans Lebenslicht erinnern, die immer wiederkehrenden Melodien, der makabre Hinweis «Exit» über der pneumatischen Türe, der Roulette-Tisch im Vordergrund oder die Bücherregale voller Porträts der Dahingeschiedenen, die nur noch zum Abstauben da sind. Das Bühnenbild setzt diese Regieanlage perfekt um. Alle Szenen spielen im gleichen Raum, den man bald alsWartezimmer oder Vorraum für das Endstadium empfindet. Im Ensemble gibt es keine eigentliche Hauptrolle, mal von Fredy Schuler als überzeugendem Lenin abgesehen. Alle Figuren sind irgendwie zentral, in der individuellen Tragik ihres Lebenslaufs gefangen. Diese Charakteren und die damit behafteten Klichees werden alle sehr glaubwürdig gezeichnet. Die Regie lässt alle Figuren auch mehrmals aus der Handlung heraustreten, stellt sie ins Scheinwerferlicht und damit auch bloss. In diesen Soli zeigt sich: Da spielt Talent und Theaterfreude. Mit sich verkürzendem Countdown stellt sich der Zuschauer unweigerlich die Frage, wie Autor und Regie die Sache denn wohl ausgehen lassen. Es endet im Desaster. Und weil sich gleichzeitig auch noch die Bühnenhinterwand öffnet, schaut man plötzlich in den Pfarrgarten Ibach. Erschreckend realisiert man: Wie auf der Bühne, so ist es auch draussen. Der Zuschauer geht nicht erleichtert nach Hause. Er macht sich so seine Gedanken.
Bote der Urschweiz
Autor
Bote der Urschweiz
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- Bühne
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