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Karl Saurers unbestechlicher Blick auf die Welt
Die Matinee im Kino Cineboxx war ganz der Würdigung von Karl Saurer gewidmet. Einerseits wurde die druckfrische Biografie über den im Jahr 2020 verstorbenen Filmemacher präsentiert, andererseits fand die Uraufführung seines Frühwerks «Ruhe» statt.
Unter den Gästen war auch die ehemalige Luzerner Nationalrätin Cécile Bühlmann. Ihre vorgetragenen Erinnerungen an die Zeit nach dem Jahr 1968 führten dem Publikum die gesellschaftlichen Zwänge jener Jahre, aber auch den Widerstand dagegen, lebhaft vor Augen. Der Einsiedler Filmemacher (1943–2020) erhielt vor zwei Jahren posthum den Einsiedler Kulturpreis, den seine Lebensgefährtin Elena M. Fischli damals entgegennehmen durfte. Sie ist auch Herausgeberin und Mitautorin der soeben erschienenen Monografie «Filme für den kreativen Widerstand. Zum Wirken Karl Saurers». Das Buch enthält Essays von elf Autorinnen und Autoren sowie eigene publizistische Arbeiten von Karl Saurer. Elena M. Fischli betonte in ihrer Begrüssungsrede in der Cineboxx, dass die reich bebilderte Biografie kein Denkmal sein will: «Kari stand Denkmälern immer skeptisch gegenüber. Deshalb handelt es sich nicht nur um ein Buch über ihn, sondern um eines, das auch seine eigene Stimme hörbar macht.»
Einsatz für Menschlichkeit und Gerechtigkeit
Das Buch ist vielschichtig, bietet überraschende Einblicke und immer auch neue Assoziationen zu Themen, Charakteren und Prozessen, denen sich Karl Saurer Zeit seines Lebens gewidmet hat. Es offenbart, wie ein demokratisches Grundverständnis sich wie ein roter Faden durch sein künstlerisches Schaffen zieht, das er stets als kollektives Teamwork verstanden hat. Elena M. Fischli betonte, dass es auch als ermutigendes Beispiel gelesen werden soll, wie trotz vieler Hürden und Hindernisse immer eine Freiheit der Wahl besteht, unbestechlich hinzusehen, sich kreativ, kritisch, unerschrocken und mutig einzusetzen, wenn es um Menschlichkeit, Gerechtigkeit, dem Schutz von Lebensgrundlagen, dem Erhalt von Kultur und wahrer Demokratie geht. Es zeigt auf, wie Karl Saurer sich mit gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Themen beschäftigt hat, die auch heute noch relevant sind. Mitautorin Eva Meienberg und Oscar Sales Bingisser lasen Abschnitte aus dem Buch vor, in denen die Art und Weise deutlich wird, wie er Zeitzeuginnen und Zeitzeugen ins Bild setzte. Er führte Interviews stets ergebnisoffen, gab den Protagonistinnen und Protagonisten Raum und begegnete ihnen auf Augenhöhe. Indem er achtsam Vertrauen aufbaute, gelangte der Filmemacher zu unverblümten Wahrheiten, die seinen Filmen grosse Authentizität geben. Die langen Produktionszeiten, die dadurch entstanden, nahm er in Kauf.
Eine Zeit von Krisen, Aufbrüchen und Befreiung
Gastrednerin Cécile Bühlmann ist durch den Film «Kebab & Rosoli » auf Karl Saurer aufmerksam geworden, ist ihm aber nie persönlich begegnet. Die ehemalige Luzerner Nationalrätin der Grünen ist in einem katholisch- konservativen Milieu aufgewachsen, das junge Frauen vor allem zu braven Hausfrauen und Müttern heranziehen wollte: «Es herrschte die Dreifaltigkeit von Männerstaat, Militär und katholischer Kirche, die Gesellschaft war autoritär, lustfeindlich, frauenfeindlich und fremdenfeindlich », erinnert sie sich an die düstere Enge der 70er-Jahre. Die reaktionäre Fortschrittsfeindlichkeit, die sie unter anderem in einer Klosterschule erfahren hatte, bewog sie zu ihrem Engagement in der Frauenbewegung. Seither widmet sie sich sozialpolitischen Themen und dem Kampf gegen die Diskriminierung von Frauen und gesellschaftlichen Minderheiten. Und obwohl auch heute noch nicht alle Gleichstellungsziele erreicht sind, sieht sie das Glas halbvoll, nicht halbleer. «Karl Saurer und ich hätten eine politische Seelenverwandtschaft gespürt, da wir für Gleiches gekämpft haben, er mit Filmen, ich politisch», ist sie überzeugt.
Ein kompromissloses, heftiges Werk
Nach den Lesungen und Reden folgte die Uraufführung des 50-minütigen Dokumentarfilms «Ruhe», der ursprünglich im Auftrag des Schweizer Fernsehens entstanden ist, aber nie gesendet und auch in keinem Kino gezeigt wurde. Nun war es endlich zu sehen, «dieses kompromisslose, kritischheftige Werk dreier junger Männer im besten Sturm- und Drangalter, die genau hinguckten», wie Elena M. Fischli den Film von Karl Saurer, Gerhard Camenzind und Hannes Meier bezeichnet. Sie waren geprägt von den Aufbrüchen im Mai 1968 und stellten in der Schweiz in vielen Bereichen ein Demokratiedefizit fest. Der aus seiner Verbannung befreite Film mit dem ironischen Titel muss als historisch bezeichnet werden. Er beleuchtet kritisch die damalige gesellschaftspolitische Realität und thematisiert verschiedene Aufbruchs-Bewegungen: Den Kampf um autonome Jugendzentren, um einen Zivildienst, die Frauenbefreiungsbewegung, die Forderung nach antiautoritärer Erziehung, Lehrlingsgewerkschaften, den Protest gegen Verdrängung von Wohnraum aus Innenstädten, die Antirassismus-Bewegung. Karl Saurer wertet nicht, er beobachtet, begleitet und lässt die Protagonistinnen und Protagonisten sprechen. Oft hat man das Gefühl, der Filmemacher sei zufällig ganz nah und unmittelbar in eine Situation geraten, die er spontan mit der Kamera festgehalten habe. Es war seine grosse Gabe, bei den Mitwirkenden Vertrauen herzustellen. Sie akzeptierten ihn als Chronisten, der ihre Handlungen und Anliegen filmisch protokollierte und im besten Sinn veranschaulichte. Karl Saurers kritischer Film ist gut fünfzig Jahre alt, viele gesellschaftliche Zwänge wurden seither gesprengt, politische Strukturen sind demokratischer geworden. Aber manchmal muss man leer schlucken, wenn einem bewusst wird, dass Frauen immer noch nicht gleich viel verdienen wie Männer, Minderheiten noch immer angefeindet und diskriminiert werden und wieder Wohnungsnot herrscht. Der Film «Ruhe» wird am Sonntag, 26. November, um 18.15 Uhr, ein weiteres Mal im Kino Cineboxx zu sehen sein. Einführung durch Elena M. Fischli, mit anschliessender Diskussion. Mehr Infos sind zu finden unter www.karlsaurer-filme.ch.
Einsiedler Anzeiger / Gina Graber
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