Literatur
Gertrud Leuteneggers «Panischer Frühling»
Die berühmte Schwyzer Schriftstellerin Gertrud Leutenegger liebt das Schwyzer Brauchtum. Immer wieder nutzt sie es, um geheimnisvolle Welten in unser Bewusstsein zu locken.
Die Asche zum Beispiel ist am Aschermittwoch weit mehr als nur aus einem Verbrennungsprozess herrührender Dreckrückstand. Die Kinder, die aus dem morgendlichen Gottesdienst kommen und nun auf dem Hauptplatz herumstehen – sind sie nicht Greise? Jedenfalls wirken ihre Haare auf den ersten Blick so grau wie die Haare alter Leute, nachdem der Pfarrer Asche darauf gestreut hat. Mit andern Worten: Die Kinder verweisen auf unsere Vergänglichkeit.
Alles ist vergänglich
Der ganze Roman macht deutlich: Wir sind zeitliche Wesen. Die «vor unseren Augen unaufhaltsam vergehende Welt», die haben wir ganz und gar nicht so im Griff, wie wir es gerne hätten. Man bedenke nur, was kleine Ascheteilchen der Welt vor einigen Jahren antaten. Fürs blosse Auge kaum erkennbare Aschepartikeln aus einem Vulkanausbruch auf Island wurden gefährlich. Sie legten den europäischen Luftverkehr lahm. Das Ereignis machte nicht nur England wieder zu einem Inselreich, sondern wirkte auch massiv und bös in die Weltwirtschaft und in den Alltag des emsigen Abendlandes. Das macht bei Leutenegger ebenso «begriffsstutzig» und «fassungslos» wie die «jähe Vergreisung» der Kinder auf dem Hauptplatz. Mächte und Gewalten bestimmen unser scheinbar sicheres, geglättetes Dasein, auch wenn wir sie kaum wahrnehmen. So sehr sind wir auf naturwissenschaftliche Nüchternheit eingeschworen. Aus tiefen Gründen kann immer wieder eine elementare Kraft aufbrechen, eben in Vulkanen zum Beispiel, in einem prasselnden Platzregen, im letzten Aufbäumen eines Sterbenden, in einem verrückt gewordenen Menschen oder ohnehin in einem panischen Schrecken bei einem Unfall oder bei einem Bombenangriff.
Das Panische
Panisch? Das Wort erscheint ja auch im Titel. Es kommt vom ziegenfüssigen Hirtengott Pan aus der griechischen Mythologie. Ein zweideutiger Gott war das: Er schützte nicht nur die Viehherden, der schreckte sie auch auf. Eben: Er jagte ihnen panischen Schrecken ein. Er symbolisiert überdies das nachgerade spukhafte rhythmische Wechselspiel der Natur, über das wir Modernen so gern hinwegsehen. Gertrud Leutenegger versteht es, durch moderne Erzählverfahren diesen Naturrhythmus eindringlich und hintergründig darzustellen. So etwas wie Durchblicke auf die geheimnisvollen Gründe unserer Naturgewalten werden möglich. Nicht zuletzt darum ist das Buch wohl dem rhythmischen Widerspiel von Ebbe und Flut entlang erzählt. Denn was könnte sinnenfälliger die eigentlich beunruhigende, aber auch lichtvoll erfreuende Macht des Grundes aufzeigen als dieses Hin und Her der Meeresbrandung. Sie nimmt, sie gibt.
Schwyzer Narrentanz
Mit ihrer rhythmischen und assoziativen Erzählweise nähert sich Gertrud Leutenegger dem, was die Erzählerin im neuen Buch einmal «verstörend leuchtendes Geheimnis der Welt» nennt. Und wer weiss: Vielleicht spiegeln an der Schwyzer Fasnacht auch die Trommelwirbel etwas von diesem Geheimnis. Sie sind auf Geräuschebene eine «Verlängerung jener unbändigen Lebenskraft», die so gewaltig einbricht in unser Leben wie einst Pan in die friedlichen Herden.
Gertrud Leutenegger: Panischer Frühling, Berlin: Suhrkamp 2014 (ISBN-10:3-518-42421-1; EAN:9783518424216.
Bote der Urschweiz
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