Literatur
«Venedig im Dezember»
Die Schwyzer Autorin Annemarie Regez legt ihr erstes Buch vor: Geschichten vom Einbruch des Ungeheuerlichen ins Gewöhnliche.
«Mr. Smith» lässt sich Hans Roggenmoser an der Hotelbar in Rio de Janeiro nennen. Denn er will ein neues Leben anfangen. Die Idee kam ihm nicht selbst, er übernahm sie von einem, den er im Flugzeug zufällig getroffen hatte. Doch Roggenmoser taugt nicht zum Ausreisser und Aussteiger. Er ruft zu Hause bei seiner Frau an: «Würdest du mich denn wieder nehmen, wenn ich zurückkäme?»
Es war nicht Einsicht, es war die Ernüchterung, als ihm ein Zufallsbekannter, Schweizer wie er, exakt die selbe Geschichte erzählt, die ihm selbst widerfahren ist: Da war einer, der vom Weglaufen erzählte, und seither sass der Stachel fest und verlangte nach Tat und Ausbruch.
Um die Erfüllung geprellt
Annemarie Regez, 1962 geboren und im Berner Oberland aufgewachsen, studierte in Bern und Tübingen Philosophie und germanische Philologie, Dialektologie und Volkskunde. Sie arbeitete als Journalistin und PR-Redaktorin und lebt seit 1993 im Kanton Schwyz. Dort arbeitet sie als Teilzeitbibliothekarin.
Die Geschichten, die sie in ihrer ersten literarischen Veröffentlichung vorlegt, handeln allesamt von Kippmomenten, in denen das Ungeheuerliche ins Gewöhnliche einfällt. Die Autorin zeigt einen Hang zu Pointen, die eine überraschende Wende mit der Ernüchterung verbinden. Eine Frau, der das Horoskop endlich einen grossen Schritt verspricht, sieht sich um die Erfüllung der heimlichen Liebe geprellt und von ihrem Chef entlassen.
Latente Fluchtneigung
Bernhard Kessler, der auf der Reise mit seinem Jassverein eine Frau kennen lernt, die fremde Schöne in die Schweiz holt und heiratet, wird glücklich und Vater von drei Kindern. «Einzig in seltenen schlaflosen Nächten fragte sich Bernhard Kessler, ob es nicht doch möglich war, dass Teresa ihn nur des Geldes wegen geheiratet hatte.» Die Unsicherheit, die dieser Bernhard Kessler im Tiefsten über die Gefühle und die Wahrheit hegt, ist ein Grundmotiv der Erzählungen von Annemarie Regez. Die Menschen, diedarin vorkommen, sind über ihre Lebensentwürfe genauso im Ungewissen. Eine latente Fluchtneigung ist an ihrer Unruhe schuld.
Abenteuer aus Mitleid
Jacques, der in der Titelerzählung «Venedig im Dezember» auf der Reise in Streit mit seiner Frau gerät, worauf sie in Mailand unvermittelt in den Zug zurück nach Norden steigt, widersteht, allein in Venedig, einem ersten, wenig lockenden Abenteuer und lässt sich dann aus lauter Mitleid auf ein zweites ein. Handelt er gegen sich selbst, nur weil er nicht so spiesserhaft sein will, wie es ihm seine Frau immer vorwirft? Ist es sein Bild oder das ihre von ihm, dem er entsprechen will? Die ernüchternde Überraschung ist die Ankunft seiner Frau am nächsten Morgen.
Lebenslüge
Das erzählt die Autorin mit zurückhaltend beobachtender Anteilnahme und in einer Sprache, die Emotionen erst in der Vorstellung des Lesers weckt. Klarheit und Lakonie zeichnen diese Sprache aus, und nur sehr selten ist eine Wendung nicht ganz stilsicher gesetzt. Was der beobachtende Blick der Autorin fasst, lässt Gewohntes und Gefestigtes ungesichert und prekär erscheinen. Die Lebenslüge, die in einer der Geschichten explizit benannt wird, lauert in allen Erzählungen als Verlockung, als Verhängnisspur, in die leicht hinein gerät, wer sich in seiner unangezweifelten Gewöhnung allzu bereitwillig eingerichtet hat.
Mit Absicht und Berechnung
Das allzu Gefestigte scheint dieser Autorin suspekt zu sein. Sie durchbricht alle Neigung zum Beharren, in das sich ihre Figuren gern zurückziehen möchten. Fast macht es den Eindruck, Annemarie Regez führe ihre «Versuchspersonen » mit Absicht und Berechnung an jenen Punkt, wo sie ihre Fluchttendenz offenbaren müssen, wo ihre Selbstzufriedenheit jäh umschlägt in Ungenügen.
Venedig im Dezember
Erzählungen von Annemarie Regez, Verlag Pro Libro Luzern. 144 Seiten, Fr. 29.–.
Weitere Infos
www.annemarieregez.ch
Neue Schwyzer Zeitung
Autor
SchwyzKulturPlus
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